Es gibt diese Bücher, die man sich für einen besonderen Moment aufspart. Somit wartete ich mit der Lektüre von Die Zeit im Sommerlicht von Ann-Helén Laestadius bis zwischen den Jahren, wo ich ungestört für 1-2 Tage komplett in einem Buch versinken kann, ohne auf die Uhr schauen zu müssen. Denn auch wenn das keine typische Festtagslektüre ist, war es genau das, was ich thematisch lesen wollte? War es „schön“? Nein. Aber es war gewaltig!
Worum geht’s
Das Buch spielt auf zwei Zeitebenen: einmal befinden wir uns in den 1950er Jahren und müssen miterleben, wie Sami-Kinder schon mit 7 Jahren ihren Eltern vom schwedischen Staat weggenommen und zwecks kultureller Umerziehung (aka „Bildung“) in sogenannte Nomadeninternate gesteckt werden. Dort müssen sie in einer ihnen fremden Sprache lernen und werden von der dortigen Leiterin sehr gequält. Die zweite Zeitebene spielt in den 90er Jahren und zeigt die aktuelle Lebensrealität der ehemaligen Internatskinder. Man lernt, was die unterschiedlichen Kindheitstraumata für Auswirkungen hatten, wie die einzelnen Kinder damit zu leben lernten und plötzlich taucht auch die ehemalige Internatsleiterin wieder auf..und bringt einige der damals verdrängten Ereignisse wieder an die Oberfläche und ins Bewusstsein der Menschen.
Wie ist’s
Schmerzhaft! Man weiß zwar, dass es diesen schrecklichen Teil der Geschichte in so vielen Ländern gibt, aber ihn dann in einzelnen Schicksalen zu lesen, berührt enorm. Natürlich sind die Personen fiktiv, aber die Mutter der Autorin war selbst auf solch einem schwedischen Internat und somit bin ich mir sicher, dass man hier einen sehr realen Eindruck von den damaligen Situationen bekommt. Wie prägend dieser „Identitätsklau im Namen der Zivilisation“ für ihr weiteres Leben wird (z.B. bekamen die Kinder im Internat sogar schwedische Namen aufgezwungen), zeigt das Buch sehr eindringlich. Enorm spannend ist gleichzeitig aber auch der Einblick in das Leben der Sámi, ihre Kultur, ihre (Familien-)Beziehungen, ihre Traditionen und auch ihr Wandel bzw der Versuch, sich an eine andere Lebensweise gezwungenermassen anzupassen. Dass man hieran zerbrechen kann, wird sehr kraftvoll beschrieben.
Das Buch hat mich von der ersten Seite an gefesselt, wo man zuerst die einzelnen Personen kennenlernt, es aber schon schnell zu Zeitsprüngen kommt, was spannend ist. Man will einfach weiterlesen, ist neugierig, wie sich die einzelnen Schicksale entwickeln, wie aus diesen Kindern diese Erwachsenen werden und man ist ständig am Überlegen, wie man wohl selbst in solch einer Situation gehandelt hätte. Dass Sámi-Wortschatz verwendet wird, ist für mich ein großer Pluspunkt, genau das will ich hier lesen und am Ende gibt es ein tolles Glossar mit Erklärungen.
Wenn ihr euch für die Themen indigene Völker bzw die Geschichte der Sámi und Schweden interessiert, kann ich euch dieses Buch nur empfehlen. Es gibt einen fesselnden Einblick in dieses schreckliche Menschheitskapitel, welches definitiv noch weitere Aufarbeitung benötigt, zeigt gleichzeitig aber auch die Resilienz, die einige Protagonisten entwickelt haben und gibt somit Hoffnung.
Ann-Helén Laestadius hat noch ein weiteres Buch geschrieben, welches den englischen Titel „Stolen“ geht. Dieses gab es leider nicht in meiner Bibliothek, aber als ich es auf meinen Amazonwunschzettel packen wollte, merkte ich, hey, es gibt eine Verfilmung! Und dann erinnerte ich mich, dass ich bei Netflix schon einen Film mit genau diesem Titel auf meine Liste gepackt habe. Ein wunderbarer Zufall und so habe ich natürlich gleich angefangen, „Stolen“ (dt: „Das Leuchten der Rentiere“) zu schauen und kann ihn euch sehr empfehlen, wenn ihr euch über die aktuelle Lebensrealität der Sami in Nordschweden/Norwegen informieren wollt.