Vielleicht habe ich laut vor Freude gejuchzt, als ich ganz unerwartet Reichskanzlerplatz von Nora Bossong in einem öffentlichen Bücherregal in Darmstadt fand. So unästhetisch die Stadt auch ist, die Leute hier lesen gute Bücher 😉 Dieses hatte ich seit seinem Erscheinen auf der Wunschliste und direkt in zwei Tagen verschlungen! Mich von ihm trennen, kann ich mich aber noch nicht, denn ich glaube, dass ich es später noch einmal lesen mag.
Worum geht’s
Hans lernt während seiner Schulzeit Hellmut Quandt kennen, dessen Stiefmutter Magda später den Nachnamen Goebbels tragen und zu einer fanatischen Nationalsozialistin und Vorzeigemutter werden wird. Schnell verliebt sich Hans in Hellmut, doch dieser erwidert seine Gefühle nicht – nein, er ist in seine Stiefmutter verliebt. Nach einem tragischen Schicksalsschlag beginnen Hans und Magda eine Affäre aus unterschiedlichen Motiven – doch ist ihr weiterer Lebensweg hierdurch miteinander verbunden, welcher für beide gefährlich wird, je weiter die Zeit voranschreitet.
Wie ist’s
Fesselnd und gleichzeitig doch ganz anders, als ich es erwartet habe. Magda Quandt bzw Goebbels steht hier nicht so sehr im Mittelpunkt, sondern wir erfahren viel über ihr Leben durch die Augen von Hans Kesselbach. Hans, der seine Homosexualität verbergen muss und somit in ständiger Gefahr lebt, wird durch seine Arbeit zum Mitläufer (oder -täter?) eines Systems, welches ihn selbst tot sehen will. Magda hingegen geht in ihrer neuen Rolle zunächst auf, muss aber auch gewisse Dinge verstecken, die nicht zu dem Image der Mutter der Nation oder zu dem sauberen Image ihres Mannes als liebenden Familienvater passen.
Das Buch dreht sich viel um die Frage der (stillen) Mittäterschaft in der damaligen Zeit, „wie aus dem kleinen Bösen das große Böse wächst“ und stellt immer wieder kurze, schmerzhafte Denkimpulse an den Leser. Man muss einfach ständig überlegen, wie man wohl selbst gehandelt hätte und wie schuldig man sich vielleicht selbst gemacht hätte. Magda selbst habe ich hier nicht nur als Fanatikerin kennengelernt, die bis zur letzten Sekunde an die NS-Ideologie, das System, glaubte und ihre Kinder tötete, bevor sie andere Denkweisen kennenlernen konnten, sondern auch als eine Frau, die einen jüdischen Adoptivvater liebte, sich in ihrer Jugend in den Bruder einen jüdischen Schulfreundin verliebte und sogar überlegte, mit diesem nach Israel auszuwandern. Wie aus dieser kreativen, aufgeschlossenen Frau, die sich junge Liebhaber suchte, wenn ihre Ehe nicht erfüllend war, schleichend diese erst Mitläuferin und dann Mittäterin geworden ist.
Beim Lesen musste ich immer wieder anhalten und nachschauen, was nun historisch belegt und was der Kreativität der Autorin entsprungen ist. Wodurch ich ein bisschen intensiver durch das Leben von Magda gegangen bin, welche ich sonst primär nur als „Frau von“ kannte. Was sich gelohnt hat, über ihre Kindheit, Jugend & ersten Ehen habe ich nichts gewusst. Insgesamt regt das Buch dazu an, sich noch einmal genauer mit einigen darin beschriebenen Momenten zu befassen, die man vielleicht nicht mehr so sehr im Bewusstsein hat und dann ist man schnell mitten in einem Recherche-Loch, da es doch so viele Details gibt, die man noch nicht kannte.
Absolut empfehlenswert sowohl von der Thematik als auch von dem Schreibstil, da beide fesselnd sind. Lest es allerdings nicht als Biographie von Magda, das ist dieses Buch nicht und will es auch gar nicht sein. Sie spielt dort eine Rolle, man erfährt eher nebenbei von ihren Lebensstationen, aber genau diese Art, ihr diese Nebensächlichkeit zu verleihen und zu fragen, wie andere Menschen in dieser Zeit zu Mitläufern und -tätern geworden sind, hat mich nachhaltig fasziniert.