Hätte meine Mama mir Petropolis von Anya Ulinich nicht in die Hand gedrückt, hätte ich es wahrscheinlich nie gelesen. Denn der Zusatz Die große Reise der Mailorder-Braut Sasche Goldberg klang für mich irgendwie nach Kitsch – und ich kann jetzt schon einmal sagen, dass das ein absolut dummes Vorurteil meinerseits war, denn kitschig ist hier gar nichts.


Worum geht’s

Sascha wächst mit ihrer Mutter in der russischen Ortschaft Asbest 2 auf und das ist nun wiederum genauso wie es klingt. Irgendwo halbvergessen im postsowjetischen Sibirien versucht das Mädchen mit jüdischem Namen und zu dunkler Haut sich seiner Umwelt anzupassen, verliebt sich, wird schwanger, erschwindelt sich an einer renommierten Kunstschule in Moskau einen Platz und will doch noch weiter fliehen. Als russische Mailorder-Braut gelangt sie in das so verheißungsvoll klingende Amerika, wo sie zunächst der geplanten Hochzeit in Phoenix entflieht und später erneut aus einem sklavenähnlichen Verhältnis in Chicago abhauen muss..um in Brooklyn anzukommen.


Wie ist’s

Enorm fesselnd geschrieben und man ist sofort Fan von Sascha und sehr neugierig, wie ihr Leben verlaufen wird. Russland in dieser tristen, schweren Zeit wird sehr gut dargestellt und man fühlt die Aussichtslosigkeit mit, die die Jugendlichen (und auch Erwachsenen) hier haben. Wer nicht zum Militär geht, hat quasi keine Chance auf einen Job und muss entweder in eine Stadt ziehen oder sich der Arbeitslosigkeit und Armut hingeben. Kein Wunder also, dass auch Sascha hier weg will und sich Wege sucht, dieses Ziel zu erreichen.

Das ist ein Coming of Age Roman, der für mich alles hat. Er spielt in mehreren spannenden Umgebungen, hat wunderbar unkonventionelle Charaktere, die man näher kennenlernen will und immer wieder (durchaus tragische) Wendungen, die ich nicht habe kommen sehen. Aber nicht nur das Leben in Russland, auch ihre Erlebnisse und Kontakte in den USA sind enorm interessant, da sie sich in Parallelwelten bewegt, die mir selbst unbekannt sind. Die Suche nach ihrem Vater, der selbst schon viele Jahre früher in die USA zog, lässt einen mitfiebern und man wünscht Sascha ein happy end, wenn sie schon ihre Mutter (und Tochter) in Sibirien zurücklassen musste.

Insgesamt hätte das Buch für mich sogar noch länger sein können, da Sascha zwar irgendwie in ihrem neuen Leben angekommen ist, es da aber doch noch viele Hindernisse geben dürfte und ich diese gerne mit ihr gemeinsam erlebt und überwunden hätte. Interessante Themen, teilweise skurrile (aber real wirkende) Geschehnisse, komplexe Charaktere mit Nachhall, gepaart mit einem witzigen, klaren und spannenden Schreibstil haben mich hier wirklich begeistert und ich würde gerne noch mehr von Anya Ulinich lesen!


Kennt jemand von euch zufällig das Buch? Und hattet ihr es auch schon, dass ihr ein Buch aufgrund seines Titels/Covers komplett falsch eingeschätzt habt? Ich mag das ja gerne, denn so werden mir meine Vorurteile immer wieder gut bewusst gemacht 😉